Auf den Spuren der Bekleidungsindustrie

 

Bahnhofsvorplatz

 

Glasmosaik, das an die Bekleidungsindustrie erinnert, früher am Bahnhof Gelsenkirchen, heute an der Front der Modehauses Boecker (Quelle: ISG/Stadtarchiv Gelsenkirchen)

In den ersten Nachkriegsjahren des Zweiten Weltkrieges wurden in Gelsenkirchen und Buer zahlreiche Bekleidungsfirmen für Damen- und Herrenoberbekleidung ge­gründet, deren Besitzer zumeist aus Breslau, Berlin oder Dresden stammten. Die kleinen Firmen richteten sich provisorisch in den ihnen zugewiesenen Sälen von Gaststätten und Restaurants ein. Wer größeren Platzbedarf hatte, profitierte davon, dass einige der Warenhäuser der Stadt unzerstört geblieben waren und die Kauf­häuser aufgrund des geringen Warenangebotes in den ersten Nachkriegsjahren nur die erste Etage benötigten. Bekleidungsfirmen entstanden in den oberen Etagen der großen Kaufhäuser in der Gelsenkirchener Bahnhofstraße oder in Buer in der Hochstraße bzw. in der Luciagasse.

 

Die Bekleidungsindustrie in Gelsenkirchen und in geringerem Umfang auch in den Nachbarstädten, stabilisierte sich in den fünfziger und sechziger Jahren zu einem der wichtigsten Produktionsstandorte der Bekleidungsindustrie in NRW. Für Frauen wurde die Bekleidungsindustrie im Ruhrgebiet damit zu einer wichtigen Adresse. Die Arbeitsbedingungen waren jedoch in hohem Maße belastend. Dem Beispiel der Textil- und auch der Automobilindustrie folgend, fand die Produktion in modernen Fabriksälen statt; der gesamte Betriebsablauf wurde durchrationalisiert und "vertaktet". Die Frauen arbeiteten überwiegend am Fließband, wo sie räumlich eingezwängt, auf alten Stühlen sitzend, jede Handbewegung an das Fließband anpassen mussten. Schlechte Beleuchtung und Raumbelüftung sowie die Bearbeitung von warmen Stoffen und Pelzen im Sommer, flusigen Sommerstoffen im Winter und ungesunde Materialien, hatten schwerwiegende gesundheitliche Folgen. Hinzu kam eine rigide hierarchische und auf die Person des Unternehmers ausgerichtete Ordnung im Be­trieb, wie viele Zeitzeugen und Zeitzeuginnen berichteten. Höhere Positionen hatten zumeist Männer inne, die Näherinnen stand am Ende der Hierarchie. Ihr Verdienst war gering – bundesweit zählte der Tariflohn der Näherinnen zu dem zweitniedrigs­ten aller Industriearbeiterlöhne.

 

Seit Beginn der siebziger Jahre kamen durch die Europäische Wirtschaftsgemein­schaft und die politische Annäherung an den Osten immer mehr ausländische Ware auf den deutschen Markt. Waren aus den USA kamen hinzu, sowie in rasch wach­sendem Umfang Produktionen aus Hongkong, Taiwan oder Singapur. Der Konkurrenzdruck stieg und machte insbesondere jenen Unternehmen zu schaffen, die ihrerseits Massenware produzierten. Auch in Gelsenkirchen mussten einige Betriebe Konkurs anmelden. Andere begannen mit der Verlagerung der Produktion ins Aus­land. In europäischen Ländern mit niedrigerem Lohnniveau wurden Zweigwerke ge­gründet. Darüber hinaus etablierte sich die "passive Lohnveredelung" als Standard: Teile der Fertigung wurden als Lohnaufträge an ausländische Firmen in Jugoslawien, Rumänien, Polen oder selbst nach Südostasien vergeben. Für die Beschäftigten be­gannen damit Jahrzehnte permanenter Sorge um ihren Arbeitsplatz. Schließungen von Produktionsabteilungen oder Betrieben wurden zur Selbstverständlichkeit. Noch im Jahr 1970 zählte die Bekleidungsindustrie in Gelsenkirchen rund 7.400 Beschäftigte. 1998 waren es gerade noch rund 600 Beschäftigte. Bei ihrem Kampf für ihre Arbeitsplätze fühlten und fühlen sich die ehemaligen Beschäftigten – angesichts der Subventionen für Bergbau und Stahl - von der Politik alleingelassen. Heute beteiligen sich ehemalige und noch aktive Beschäftigte, wie auch die Gewerkschaft Textil Bekleidung (jetzt IG Metall) an der Kampagne für "Saubere Kleidung" und fordern die Gewährleistung und Kontrolle von sozialen Standards in der Auslandsfertigung.

 

Anmerkung: Seit Ende der 90er Jahre gibt es eine Arbeitsgruppe zur Geschichte der Beklei­dungsindustrie bei der örtlichen Arbeitsgemeinschaft Arbeit und Leben (DGB/VHS). In Kooperation mit dem Forschungsinstitut für Arbeiterbildung und der IG Metall wur­den die Erinnerungen und Arbeitserfahrungen von Beschäftigten, FunktionärInnen und BetriebsrätInnen der Bekleidungsindustrie aufgezeichnet und ausgewertet. Die Dokumentation "Arbeit an der Mode" ist im Frühjahr 2001 im Klartext Verlag in Essen erschienen. Zur Dokumentation wird es im Frühjahr 2004 eine Ausstellung in der Flora geben.

 

Quelle: Birgit Beese und Brigitte Schneider

 

Aus: Von Hexen, Engeln und anderen Kämpferinnen - Stadtrundgänge aus Frauensicht in Gelsenkirchen. Hrsg.: Frauen- und Mädchenforum der Lokalen aGEnda 21 in Kooperation mit dem Frauenbüro der Stadt Gelsenkirchen und dem aGEnda 21-Büro. Gelsenkirchen 2001.

 

Textauszug, redaktionell bearbeitet durch das aGEnda 21-Büro

 

Das Lesebuch zur Frauengeschichte in Gelsenkirchen ist im Gelsenkirchener Buchhandel und im aGEnda 21-Büro (Telefon 0209 / 147 91 30) erhältlich.