Ilse Kibgis Schriftstellerin

 

Industriestaße 14

 

Ilse Kibgis, 2000 (Foto: Brigitte Ondrusch)

In der Industriestraße 14 in Horst nahm die literarische Laufbahn der
Schriftstellerin Ilse Kibgis ihren Anfang. Geboren wurden Ilse Kibgis, geborene Tomczak, am 3. Juni 1928 allerdings in Horst-Süd, und zwar in der Rüttgergasse 17. Bis zum Alter von 25 Jahren lebte sie hier in der elterlichen Wohnung in der Horster Bergarbeitersiedlung, bevor sie Anfang der fünfziger Jahre mit ihrem Mann in den Horster Norden umzog. Und obwohl sie in dem neuen Wohnumfeld Jahre später zu schreiben begann, haben die Kinder- und Jugendjahre im Horster Süden die Schriftstellerin stärker geprägt als die kommenden Jahre.

 

"Der Süden, das war Leben pur: Nachbarschaftshilfe, Tante-Emma-Läden. Aber auch bedrängte Wohnverhältnisse. Visionen, Träume, die Gemeinsamkeit kollektiver Armut. Im Norden von Horst wohnten die Alteingesessenen, die Pohlbürger, im Süden zumeist die 'Zugereisten'. Der Norden war auch für viele Jahre das eigentliche Zentrum von Horst. Hier standen das Amtsgebäude, die Post, das neue Krankenhaus, die katholische Hauptkirche und die Apotheke. 

 

Die Horster Industrie bot in erster Linie den Männern existenzsichernde Arbeitsplätze. 1867 ging die Zeche Nordstern in Förderung, 1915 nahm die Kokerei den Betrieb auf, 1939 begann das Hydrierwerk der Gelsenberg Benzin AG mit der Benzin-Produktion für den Krieg. Auch Ilse Kibgis' Vater arbeitete als Bergmann auf verschiedenen Zechen im Ruhrgebiet. Seine Eltern waren Bauern in Posen. Die Mutter versorgte den Haushalt und die Familie und sie arbeitete als Putzfrau als der Vater arbeitslos wurde. Nach der Volksschule leistete Ilse Kibgis ein Pflichtjahr in einem Lebensmittelgeschäft, danach verpflichtete man sie zum Kriegsdienst in Schuh- und Matratzenfabriken. Nach dem Krieg verdiente sie ihren Lebensunterhalt als Serviererin, Kassiererin, Manglerin und Verkäuferin. 

 

Mit zehn Jahren hatte sie ihr erstes Buch gelesen und danach gehörten Bücher zu ihrem Leben. Von Goethe, Schiller bis Dostojewski studierte sie alle Klassiker. Später las sie dann immer häufiger Lyrik: Erich Kästner, Heinrich Heine, Ingeborg Bachmann. 1948 lernte sie in der evangelischen Jugend Fred Kibgis kennen. Der junge Mann war Ofenmaurer. 1953 ließ sich das Paar in der eigenen Wohnung in Horst-Süd trauen. Zwei Kinder starben kurz nach der Geburt. 1955 kam Sohn Gerd zur Welt. Mitte der siebziger Jahre schrieb Ilse Kibgis ihre ersten veröffentlichten Gedichte. Sie entstanden am Küchentisch in der kleinen Küche in der Industriestraße. In den folgenden Jahren ihrer intensivsten Schaffensperiode blieb er ihr Arbeitsplatz. Heute wohnen die Eheleute in einer ruhigen Wohnsiedlung in Gladbeck. Ihre Küche ist hell und geräumig mit Blick in den Garten. Zum Schreiben geht Ilse Kibgis in den engen ausgebauten Keller, wo sie sich einen kleinen Arbeitsraum eingerichtet hat. 

 

1976 stellte Ilse Kibgis ihre Gedichte in der Literarischen Werkstatt der Volkshochschule Gelsenkirchen vor. Bereits ein Jahr später gab Josef Büscher, der damalige Leiter der Werkstatt, von ihr ein Buch heraus. Es heißt "Wo Menschen wohnen" und stellt eine Auswahl ihrer Gedichte vor. Seitdem gehört sie dem Deutschen Schriftstellerverband an. Roland Kirbach bezeichnete sie als eine Lyrikerin, die gegen "das Grau des Alltags anschreibt. Zu ihrem Themenspektrum gehören Krieg und Frieden sowie Situationen aus dem alltäglichen Leben. Vor allem aber schreibt sie über die Arbeit und das Problem fehlender Arbeitsplätze im Ruhrgebiet. Zu den bekanntesten Gedichten zählen jene über Frauen und Frauenarbeit. 

 

 

Serviererin

 

Balanceakte

von Tisch zu Tisch

 

im Kopf der

Schnellrechner

und Marathon

in den Füßen

 

das Erdrund

schon fast überrundet

um über die

Runden des Lebens

zu kommen

 

ein Berufslächeln

und eins für

Trinkgelder

 

ein Gästegesicht

und ein eigenes

 

am Monatsende

der Vergleich

zwischen Gehalt

und Gewinn

 

 

Alpträume einer Kassiererin

 

Hartgeld und Weichgeld

Kassenstürze
und Angst vor
Differenz

 

harte und weiche
Gesichter
Menschenring der mich
einschnürt

 

harte und weiche Wellen
Cheflaunen
die mich abrichten

 

harte und weiche
Träume
Tippfehler
der Fantasie

 

 

Gedicht ohne Titel

 

die Frau von nebenan
stand dann und wann
mal ihren Mann

 

doch dieser Mann
von nebenan
wurde alt und grau

und stand doch niemals
seine Frau

 

Quelle: Marlies Mrotzek

 

Aus: Von Hexen, Engeln und anderen Kämpferinnen - Stadtrundgänge aus Frauensicht in Gelsenkirchen. Hrsg.: Frauen- und Mädchenforum der Lokalen aGEnda 21 in Kooperation mit dem Frauenbüro der Stadt Gelsenkirchen und dem aGEnda 21-Büro. Gelsenkirchen 2001.

 

Textauszug, redaktionell bearbeitet durch das aGEnda 21-Büro

 

Das Lesebuch zur Frauengeschichte in Gelsenkirchen ist im Gelsenkirchener Buchhandel und im aGEnda 21-Büro (Telefon 0209 / 147 91 30) erhältlich.